Phys X
Lernanwendung, in der Schüler:innen physikalische Zusammenhänge explorativ erfahren können
2021, Bachelor-Arbeit
mein Part
Research, Konzeption, Ausarbeitung der Lehrer-Anwendung, Testing
Projektpartner
Johannes Held
In unserer Bachelor-Arbeit haben wir eine Lernanwendung für den Physikunterricht entworfen und ausgestaltet.
Die Schüler:innen können darin die Zusammenhänge einzelner physikalischer Größen (beispielsweise Spannung, Kapazität und Ladung) durch Explorieren selbst erfahren und damit begreifen.
Mehrere Phasen und leitende Aufgaben helfen dabei, das neu erworbene Wissen nachhaltig zu verfestigen.
Mich reizte an dem Projekt, Wissen auf eine interaktive und damit für Schüler:innen attraktivere Art und Weise darzubieten.
Eine weitere Herausforderung, die ich gerne angenommen habe, war das Konzipieren von mehreren Anwendungen für verschiedene Bedienrollen. Während der Entwicklung haben Änderungen in der Schüler:innen-Applikation oft zu Änderungen in der der Lehrkraft geführt und umgekehrt. Dabei stets die individuellen Bedürfnisse und Befugnisse der Zielgruppen zu berücksichtigen fand ich sehr spannend.
Um Erkenntnisse zu generieren, lasen wir Fachliteratur und Studien zu Lern- und Gedächtnispsychologie. Außerdem sprachen wir mit Schüler:innen und Lehrkräften und führten ein Shadowing und eine Cultural Probe durch.
Im Physikunterricht dürfen Schüler:innen die Experimente selten selbst durchführen. Gründe dafür:
Digitale Simulationen sind ungefährlich und lassen sich schnell auf- und abbauen.
Versuche, die die Schüler:innen selbst durchführen, bleiben ihnen länger im Gedächtnis und erzeugen Motivation für das Unterrichtsfach.
Schüler:innen hören aktuell meistens passiv den Vorträgen der Lehrkraft zu, anstatt sich den Lerninhalt selbst aktiv erarbeiten zu können.
Durch interaktive und beeinflussbare Lerninhalte können Schüler:innen selbstwirksam die Thematik erfahren und begreifen.
Arbeiten Schüler:innen in Gruppen, tauschen sie sich unweigerlich über den Lerninhalt aus.
Das fördert das Verständnis des Themas und eine nachhaltige Verankerung im Gehirn.
Erlernt man eine neue Thematik, ist das Erarbeiten in Gruppen effektiver als alleine.
Manche Schüler:innen haben Verständnisprobleme, sobald es um Formeln und Rechnungen geht oder der Lerninhalt zu theoretisch wird. Sie lernen dann nur noch auswendig.
Durch Explorieren und Ausprobieren können sie sich die oftmals mathematischen Zusammenhänge zwischen den physikalischen Größen selbst herleiten.
Für den Lernerfolg ist es außerdem wichtig, dass Schüler:innen Struktur und konkrete Lernziele erhalten, um eine wahlloses Interagieren mit der Anwendung zu vermeiden.
Klare Aufgaben und Ziele sowie gleichbleibende Ablaufphasen leiten den Lernprozess.
Es sollte also eine digitale, interaktive Simulation werden, in der die Schüler:innen sich gemeinsam die physikalischen Zusammenhänge erarbeiten und begreifen konnten.
Eine Idee war, ein Labor in Virtual Reality nachzubilden. Damit wollten wir den Jugendlichen ermöglichen, sowohl die aus dem Physikunterricht bekannten Experimente auf ungefährliche Weise durchzuführen, als auch utopische Versuche zu machen, indem man beispielsweise Naturkonstanten wie die Schwerkraft verändert.
Virtuell deshalb, weil durch digitale Simulationen auch Sachverhalte dargestellt werden können, die bei realen Experimenten nicht möglich sind.
Davon kamen wir aber wieder ab, da wir die Interaktion der gesamten Klasse miteinander eingeschränkt sahen. Wenn zwei Schüler:innen gemeinsam in einem VR-Labor wären, könnten sie nicht die Überlegungen und Versuche anderer Gruppen mitbekommen. Und gerade dieser Austausch befruchtet einen interessanten und lehrreichen Unterricht.
Eine weitere Idee war, die Schüler:innen auf einer virtuellen Arbeits- und Experimentierplatte arbeiten zu lassen. Dort sollten sie eine gegebene Simulation beobachten, verändern und so selbst auf die Zusammenhänge zwischen den physikalischen Größen kommen. Wir fanden das Konzept vielversprechend, da die Grundstruktur - ein veränderbares Szenario und zugrundeliegende Parameter - leicht auf andere Physik-Themen übertragbar ist.
Wir nahmen an, dass der interaktive Tisch auch für Anwendungen anderer Schulfächer genutzt werden kann.
So ist die Anschaffung für Schulen attraktiver als beispielsweise Experimentierkoffer, die ebenfalls sehr teuer sind.
Den Prototyp entwickelten wir erst analog, später digital in Iterationsschleifen immer weiter. Als Medium stand schon bald ein Tisch mit Touch-Display fest. Damit wollten wir erreichen, dass die Schüler:innen, die zusammenarbeiten, auch dasselbe sehen.
Außerdem verstärkt eine gemeinsame Arbeitsfläche das Gefühl, auch an einer gemeinsamen Sache zu arbeiten. Diese Punkte sahen wir beispielsweise bei Tablets nicht gegeben. Ein weiterer Vorteil ist, dass man durch Touch die große Ansichtsfläche auch als Interaktionsraum nutzen kann.
Die frühen Versionen dieses Konzepts boten sehr viel Variations- und damit Experimentierfreiheiten für die Schüler:innen. Das machte sie allerdings auch sehr komplex - zu komplex um innerhalb einer Schulstunde selbstständig zu Ergebnissen zu gelangen.
Deshalb verschlankten wir das Konzept. Außerdem fügten wir noch Aufgaben hinzu, die die Schüler:innen in ihren Handlungen leiten.
Quelle der Personen-Grafiken:
macrovector/Freepik
Näheres zu dem verschlankten Konzept mit leitenden Aufgaben
Um ein Gefühl für die Dimensionen des Interfaces und dessen Bedienung zu bekommen, liehen wir uns von der Hochschule einen 49"-Touch-Display aus.
Wir testeten, welche Bereiche des Bildschirms gut und welche weniger gut erreichbar sind. Bei einer Screengröße von ca. 107cm auf 61cm kann man gut zu zweit nebeneinander sitzen.
Um die Augen zu schonen, entschieden wir uns für ein dunkles Interface. Ein helles würde aufgrund der großen Fläche zu sehr in die Augen strahlen.
Im Foto ist die Reichweite zweier rechthändiger Nutzer:innen dargestellt. Der Bereich der inneren Kreise ist leicht erreichbar. Das jeweils äußere Oval kann nur mit ausgestrecktem Arm bedient werden. Der nicht markierte Teil ist ohne aufzustehen gar nicht zugänglich.
Dies berücksichtigten wir entsprechend bei der Gestaltung. Im oberen Bereich sind die Beobachtungsfenster platziert, mit denen die Schüler:innen kaum interagieren müssen. Diese können sie gut gemeinsam im Blick behalten, da sie nicht durch die andere Person verdeckt werden.
Im unteren leicht erreichbaren Bereich sind die interaktiven Elemente. Wobei jeder sein eigenes Bedienpanel hat und in der Mitte die gemeinsam zu lösenden Aufgaben platziert sind.
Allerdings fällt es schwer, den eigenen Wert am dargestellten Balken über Touch zu variieren und dabei auch die Veränderung der Simulation zu beobachten. Es fehlt hier das Feedback, an welcher Position man sich mit dem Finger befindet oder ob man gar schon über das Ende des Balken hinaus ist.
So kam die Idee eines physischen Controlers auf. Damit ist eine blinde Variation der Werte möglich und die Augen können auf dem oberen Teil des Screens ruhen.
Zuerst aus Knetmasse, später aus Clay formten wir verschiedenen Prototypen für den Schieberegler.
Die Formgebung sollte dabei zum einen eindeutig kommunizieren, wie das Gerät zu halten und zu bedienen ist. Zum anderen war es uns wichtig, dass es sowohl Rechts- als auch Linkshänder:innen angenehm in der Hand liegt.
Phys X wird im Physikunterricht zu Beginn eines neuen Themas eingesetzt. Hierfür trifft die Klasse sich in einem Fachraum, der mit speziellen Tischen mit integriertem Touch-Display ausgestattet ist. Neben anderen Lernanwendungen ist dort auch Phys X installiert. Die Schüler:innen nehmen zu zweit an einem Tisch Platz.
Die Lehrkraft hat ein iPad zur Verfügung, mit dem sie den Unterricht organisieren und Fortschritte der Schüler:innen live einsehen kann.
Das Konzept wurde an Schüler:innen der gymnasialen Oberstufe ausgerichtet. Eine Adaption der Anwendung für andere Klassenstufen und Schularten ist denkbar.
Eine Phys X-Schulstunde besteht aus vier Phasen:
In der ersten Phase stellt die Anwendung den Schüler:innen das benötigte Vorwissen für die neue Thematik zur Verfügung.
Das neue Thema selbst bleibt unbekannt. Es wird weder durch die Anwendung noch die Lehrkraft verraten.
Der Erklärtext wird durch passende Animationen unterstützt.
Neues Wissen wird besser im Gehirn verankert, wenn man zuvor relevantes Vorwissen wieder aufruft.
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Die Lehrkraft kann über ihr Tablet einsehen, welche Schüler:innen noch am Lesen sind und welche das Vorwissen bereits abgeschlossen haben.
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Hat eine Gruppe eine Frage, kann diese die Hilfe der Lehrkraft anfordern. Erkennbar ist das am Hand-Icon im jeweiligen Gruppenelement.
Durch die "Hilfe anfordern"-Funktion muss sich die Lehrkraft nicht mehr merken, wer sich in welcher Reihenfolge gemeldet hat. So kann sie sich mehr auf die Schüler:innen konzentrieren, die sie gerade betreut.
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Im oberen gleichbleibenden Bereich kann die Lehrkraft zentral für alle Tische die nächste Phase starten, pausieren oder die Anwendung beenden.
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Rechts ist übersichtlich der Fortschritt der gesamten Klasse erkennbar.
Im Hauptteil Exploration können die Jugendlichen eine digitale Simulation beobachten und diese mit Hilfe von physischen Schiebereglern manipulieren.
Sie wissen nicht, welche physikalische Größe sie jeweils mit ihrem Controler verändern. Ihr Ziel ist es, die Größen benennen und die Zusammenhänge zwischen diesen beschreiben zu können.
Um ihre Antworten notieren zu können, stehen den Schüler:innen kapazitive Eingabestifte zur Verfügung.
Jeder Simulation liegt eine physikalische Formel zugrunde. Die Schüler:innen verändern jeweils den Wert einer physikalischen Größe, z.B. der Spannung und Kapazität. Aus diesen beiden Größen ergibt sich eine weitere, in dem Fall die elektrische Ladung.
Durch die Werteveränderung verändert sich auch die Darstellung der Simulation und des Graphen.
Mehrere Aufgaben leiten die Schüler:innen an, ihre Werte zu variieren, die Veränderungen zu beobachten und dadurch logische Schlüsse auf das Verhalten des neuen Phänomens zu ziehen.
Das systematische Verändern von Werten und daraufhin Beobachten der Veränderungen ist eine bewährte Methode in der Physikforschung.
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Über die Gruppenelemente kann die Lehrkraft auch in dieser Phase einsehen, wie weit die einzelnen Schüler:innen sind - konkret bei welcher Aufgabe sie sich gerade befinden.
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Für die Explorationsphase kann die Lehrkraft vorab ein Zeitlimit festsetzen. Sollten die Schüler:innen spontan mehr oder weniger Zeit benötigen, kann der/die Pädagog:in dies hier regulieren.
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Zudem kann die Lehrkraft bereits während der Exploration die Antworten der Schüler:innen überfliegen und sich beispielsweise auf das Plenum vorbereiten.
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Antworten, die sie im Plenum besprechen möchte, kann sie mit einem Lesezeichen markieren.
Eine befragte Lehrkraft sah hier unter anderem einen großen Vorteil:
Sie kann gezielt auf die Schüler:innen zugehen, bei denen sie aufgrund der Antwort Verständnisprobleme vermutet.
Nach einer von der Lehrkraft definierten Zeit beruft diese das Plenum ein. Im Klassenverband werden die Ergebnisse besprochen.
Neben den eigenen Antworten werden die Musterlösungen angezeigt.
Ist den Schüler:innen etwas unklar, kann die Lehrkraft es tiefergehend erklären, indem sie zentral die Simulation steuert, die auf den digitalen Tischen angezeigt wird.
In Interviews sagten uns Schüler:innen, dass ihnen häufig andere Sichtweisen helfen, wenn sie etwas noch nicht vollständig verstanden haben. Diese können sie im Austausch während des Plenums erlangen.
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Im linken Bereich kann die Lehrkraft die Simulation zentral steuern, sodass alle Schüler:innen auf ihren Tischen dasselbe sehen. So kann sie ihre Erläuterungen visuell unterstützen.
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Rechts kann die Lehrkraft durch die Schüler:innen-Antworten scrollen. Markierte Antworten werden automatisch nach oben sortiert, damit sie leichter im Zugriff sind.
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Mit den Switches kann die Lehrkraft einzelne Bereiche ein- und ausblenden. So kann sie die Aufmerksamkeit der Schüler:innen gezielt auf das richten, auf das sie sich in ihren Erklärungen gerade bezieht.
Im Anschluss können die Jugendlichen in der Festigung ihr neu erworbenes Wissen problemlösend anwenden.
Die Darstellungen aus der Explorationsphase stehen ihnen dafür in einem leicht veränderten Kontext zur Verfügung.
Zudem erhalten sie Ziele, die sie durch Variation ihrer Werte erreichen sollen.
Wird neues Wissen direkt praktisch angewendet, verankert es sich besser im Gehirn.
Der iPad-Screen für die Festigung ähnelt dem der Phasen Vorwissen und Exploration, da die Verwaltungstätigkeiten im Wesentlichen dieselben sind.
In der mobilen Lehrkraft-Anwendung kann diese nicht nur die aktuelle Unterrichtsstunde steuern.
Die Lehrkraft kann zudem eine neue Unterrichtsstunde vorbereiten, indem sie eines der von Phys X bereitgestellten Themen wählt und die Einheit nach den Bedürfnissen ihrer Schüler:innen modifiziert.
Die bereits personalisierten Unterrichtsstunden können unter einem gesonderten Menüpunkt aufgerufen und wieder genutzt werden.
Außerdem kann die Lehrkraft die Schüler:innen-Antworten, die sich über das Schuljahr angesammelt haben, ansehen und sich so beispielsweise ein Bild über die Entwicklung einzelner Schüler:innen machen.
Aus Lehrer:innen-Interviews wissen wir, dass Schüler:innen sich eher an Unterrichtsinhalte erinnern, wenn ihnen die Schaubilder oder Worte von vorherigen Schulstunden wieder gezeigt werden.
Deshalb kann die Lehrkraft Schritt für Schritt eine bestehende Unterrichtseinheit so verändern und eigene Inhalte einsetzen, dass sie bestmöglich an die Anforderungen ihrer Schüler:innen angepasst ist. In der Vorbereitung einer Phys X-Stunde kann man:
In einer Vorschau kann die Lehrkraft sich jederzeit ansehen, wie die Unterrichtsstunde in der Schüler:innen-Anwendung aussehen wird.
Da Lehrer:innen ihren Unterricht häufig zuhause vorbereiten, sind Bearbeitung und Verwaltung der Phys X-Stunden vollständig am Tablet möglich, welches bequem mit nach Hause genommen werden kann.
Damit die Schüler:innen sich auch mit den Materialien der Phys X-Unterrichtsstunden auf die Klassenarbeiten vorbereiten können, bekommen sie diese digital zur Verfügung gestellt.
In der zugehörigen Smartphone-Anwendung können sie beispielsweise die Simulation noch einmal steuern und auch ihre Antworten sowie die Musterlösungen einsehen.
Wir hoffen, durch unser Konzept den Physikunterricht, der vor allem in der Oberstufe zunehmend abstrakt wird, etwas aufzulockern und interaktiver zu gestalten.
Schüler:innen, mit denen wir die Anwendung getestet haben, hatten Spaß bei der Bedienung und auch den Aha-Moment in der Explorations-Phase konnte man ihnen förmlich ansehen. Auch ein Physiklehrer, den wir um Feedback baten, bestätigte uns, dass er Phys X in seinem Unterricht einsetzen würde.
Ich habe während des Projektes einiges über das Lernverhalten von Menschen erfahren und wie man dieses besser gestalten kann. Gerade in Kombination mit dem Bildungssektor finde ich das ein sehr interessantes Feld, in dem es für User Experience Professionals viel Potenzial gibt.
Das Konzipieren und Entwerfen des physischen Controllers machte mir großen Spaß. Zunächst die Anforderungen aufzustellen, um uns dann in Iterationen immer näher an die optimale Form und Bedienung heranzuarbeiten, war ein tolles Gefühl. Zudem begeistert es mich immer wieder, haptische Produkte in einer Anwendung integrieren zu können.
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